Donnerstag, 11. Oktober 2007

Freistil (XCII)

Buntes Nachtlied

Dort drüben hängen die bunten Schildkröten, von denen ich Dir bereits erzählte, fein säuberlich aufgereiht an einem Tau, unter ihnen stehen Schüsseln, die das Blut auffangen werden, wenn ihnen der Mann, der diesen grausamen Job schon seit Jahren übernimmt, die Kehlen durchschneiden wird. Ihr Blut hat jeweils die im Farbkreis gegenüberliegende Farbe von der ihres Panzers. Schon seit Anbeginn der Zeit gewinnen wir auf diese Art und Weise die Farbe, die wir dringend benötigen, um zu malen. Es mag Dir grausam erscheinen, Dir, als jemandem, der zum ersten Mal in diesem Land zu Besuch ist, aber das Leben hier bedeutet rein gar nichts ohne die Kunst, wir opfern unser ganzes Dasein der Kunst und die Schildkröten tun genau dasselbe, wenn auch durch unsere Hand. Sie genau hin: Sie zappeln nicht. Sie wissen, was mit ihnen geschehen wird, sie sind ganz ruhig. Wir haben natürlich im Laufe der Zeit versucht, die Prozedur zu verändern, das Blut der Schildkröten nur anzuzapfen und wir haben auch nach anderen Quellen zum Gewinnen der Farbe gesucht, aber es war alles erfolglos, es führte zu letztendlich unbefriedigenden Bildern. Es scheint fast so, als würde das Leben dieser Kreaturen mit dem letzten Tropfen in die Schüsseln fallen und sich von dort in die Bilder fortsetzen, die Du so bewunderst. Ich will gar nichts beschönigen: Es ist brutal, was wir tun. Es verlangt uns einiges ab, so zu leben. Aber wir sind nunmal, was wir sind und wir müssen es aufrechterhalten. Jeder Versuch, das grundlegende Prinzip unseres Daseins zu ändern, würde zwangsläufig zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Katastrophe führen, deren Ausmaß sich niemand, der hier geboren wurde, auch in im Ansatz vorzustellen vermag. Die Barbarei würde Einzug halten. Es würde aus diesem Land genau das werden, was Du als Deine Heimat kennst.

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