Freitag, 31. August 2007

Freistil (LXIX)

Genretypologie (I)

Für uns wurde der Widerstand in dieser Zeit zu einer ernsten Sache, nicht zuletzt aufgrund der sich unter uns wie ein Lauffeuer verbreitenden Neuigkeit vom Tod des Typen, den wir nur "Skin" genannt hatten. Die meisten von uns waren bisher davon ausgegangen, dass er und ein Dutzend seiner Mitarbeiter die letzte Befehlsgewalt innehatten, dass er gewissermassen der Anführer war. Als wir erfuhren, dass er nicht mehr lebte, wurde allen klar, dass stimmte, was einige von uns schon seit Jahren verbreiteten, ohne selbst davon überzeugt zu sein: Dass die Maschinen sich nur noch selbst kontrollierten, dass sich die Welt in einen Phillip K. Dick-Roman verwandelt hatte.

Wir waren uns zunächst sehr sicher, dass diese Neuigkeit die Zahl unsere Anhänger mindestens vervierfachen würde, aber bis auf eine handvoll Zuläufe, die sich explizit auf diese Erkenntnis beriefen, blieb der erwartete Sturm aus. Die meisten Menschen gingen weiter apathisch in die Fabriken, folgten weiterhin den Befehlen ihrer metallenen Vorgesetzten und hatten kein Interesse daran, Fragen zu stellen, solange sie am Ende des Tages mit genug Credits in ihre Appartments zurückkehren und dort die üblichen "Freiheiten" geniessen konnten, die dem Durchschnittmenschen das Leben versüßen.

Es war ein anderes Ereignis, knapp vierzehn Monate später, das meiner Meinung nach die Wende einleitete, die uns schlussendlich zum Sieg führen wird: Der Tod von J., der Tod des dicken, netten, liebenswerten J., der von einer ihrer mit 500m/s durch die Paletten, in deren von uns ausgehöhlten Mitte sich damals unser erstes Hauptquartier befand, geschossenen, dünnen Metallplatten, glatt in der Mitte durchtrennt wurde, nachdem er sich im Schlaf wohl herumgewälzt haben musste, und deswegen auf einem Spalt zwischen zwei Metallkisten lag, als die mir bis heute technisch nicht verständliche "Maschine zur Durchsuchung der Lagerbestände nach Eindringlingen", wohlgemerkt ohne das angeblich immer ertönende Warnsignal, das uns die Möglichkeit geben sollte, aufzugeben, mit ihrer Jagd auf uns begann, wurde zu unseren größten Propagandaerfolg.

Ich kam mir schäbig dabei vor, nachts in den Wohnvierteln Flugblätter zu kleben, auf denen das Foto der zerstückelten Leiche meines besten Freundes zu sehen war, aber ich wusste, dass es unsere große Chance war. Dass es schockierend genug war, um die Leute endlich aufzuwecken, ihnen klarzumachen, dass wir in den letzten 40 Jahren zu Sklaven der Technologie geworden waren und dass das seit Anfang des Jahrzehnts nicht mehr nur eine von paranoiden Verschwörungstheoretikern benutzte und zu belächelnde Metapher war. Der Widerstand hatte mit J. seinen ersten Toten. Und ich machte ihn zum Märtyrer.

Der offene Krieg brach kurz danach aus.

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