Tiefdruckgebäude
Im Keller, man musste langen einen neonfarbenen Gang durchschreiten, der an frühe Computerspiele in First-Person-Perspektive erinnerte1, fand sich ein Schwimmbecken, in dem eine Frau unablässig ihre Bahnen zog. Ich weiß nicht, wie lange ich insgesamt dort stand und das Geschehen beobachtete2. Es roch stark nach Chlor3 und die mechanischen Bewegungen mit denen die Mitdreißigerin durch das in Relation zur Größe des ganzen Gebäudes geradezu wahnwitzig klein wirkende Becken schwamm, während die alte Dame, die meine potentielle Vermieterin war, unablässig mit ihrer krächzenden, aber nicht unangenehmen Stimme auf mich einredete4, wirken nach einiger Zeit fast hypnotisch, so dass mir plötzlich dunkel vor Augen wurde.
Als ich wieder zu mir kam, stand ich oben, ganz oben, wieder in dieser leeren, erst kürzlich blütenweiß gestrichenen Wohnung im 29. Stock5 des Y-Hauses, einem Bauwerk, dass Schichten um Schichten von Menschen aufeinanderstapelt, in insgesamt drei sternförmig angeordneten Gebäudekomplexen6. Die alte Frau war verschwunden, meine Begleiterin konnte ich ebenfalls nicht ausmachen und als ich, gänzlich ohne irgendeinen rationalen Grund dafür zu haben, durch die immer noch geöffnete Balkontür an die zugige Luft trat, schien es mir völlig klar, dass das, was ich im Anschluss tat, die einzig denkbare Möglichkeit war, die ich zu diesem Zeitpunkt noch hatte, um dem schon seit Wochen im Verborgenen anschwellenden Wahnsinn7 zu entkommen. Ich sprang von dem Gebäude, das jeder in Bayreuth irgendwie, um sei es nur am nebelverhangenen Horizont schon einmal unbewusst wahrgenommen hat, das aber nur wenige wirklich betreten haben8. Sieben Sekunden später durchschlug mein Kopf zuerst den kleinen, grünen Kaktus, dann den Blumentopf, den die Mieterin in Appartement Nummer 046 im dritten Stock auf dem Rand ihres Balkon stehen hatte9, und wurde schließlich von eben jenem Betonrand abrupt gebremst. Es dürfte witzig ausgesehen haben, wie sich mein Körper beim Fall über die restlichen acht Meter in der Folge dieses recht einseitigen Abgebremstwerdens mehrmals um seinen Mittelpunkt drehte10, aber dummerweise war niemand dort, um es zu beobachten, zumindest stand es so später in den Zeitungen11. Ich bin mir relativ sicher, dass in Wahrheit mindestens zehn bis zwanzig der hier so zahlreich versammelten Menschen irgendetwas von meinem Sprung mitbekommen haben mussten, aber, wie es an einem solchen Ort durchaus Sitte ist, schlicht und einfach stumm blieben, als die Polizei nach Zeugen suchte. Ich selbst konnte dazu auch keine Auskunft mehr geben, denn der heftige Aufschlag mit der Stirn im dritten Stock hatte mich in wenigen Sekundenbruchteilen von einem denkenden, atmenden, extrem komplex konstruierten biologischen Wesen zu einem Stück Fleisch ohne jegliche kognitive Fähigkeiten gemacht, d.h. getötet12.
Währenddessen beendete die Mittdreißigerin mit der blauen Badekappe ihre siebenundfünfzigste Bahn, hielt kurz an und schnappte ein paar Sekunden nach Luft.
1 vgl. zb. die Mitte des vierten Levels in 'Doom II' von Id Software.
2 in jedem Fall handelte es sich um eine Zeitdehnung, d.h. die empfundene Zeit war deutlich länger als die tatsächlich erlebte
3 Tatsächlich roch es, meiner heutigen subjektiven Erinnerung zufolge, nach Schwefel, es muss sich allerdings wohl um Chlor gehandelt haben, da meinen Nachforschungen zufolge Schwefel nicht in Hallenbädern genutzt wird.
4 'krächzend' hier also eher im Sinne von 'typisch für alte Menschen'.
5 Ich habe inzwischen vergessen, wie viele Stockwerke das Gebäude wirklich hat, die 29 ist an dieser Stelle also lediglich eine (wohl annähernd zutreffende) Schätzung, die lediglich die Größe dieses für eine Kleinstadt wie Bayreuth sehr hohen und massiven Hauses verdeutlichen soll.
6 eigentlich Y-förmig, daher auch der Name, 'sternförmig' soll an dieser Stelle die Wiederholung vermeiden, da der Buchstabe kurz davor bereits genannt wird.
7 Wahnsinn in innerer, wie äußerer Bedeutung, d.h. dem Wahnsinn wie in "der Wahnsinn hat Methode" und gleichermaßen dem Wahnsinn im individualpathologischen Sinne.
8 Wer an dieser Stelle noch nicht erkennt, worauf hier permanent Bezug genommen wird, obwohl er es mal gelernt hat, dem ist dringend empfohlen, sich mit seiner eigenen Psyche ebenfalls näher auseinanderzusetzen.
9 Inversion: "Ich fiel mit dem Gesicht auf den kleinen grünen Kaktus draußen am Balkon", was halten sie davon? holla ho holla hi usf.
10 Ein Physiker mag in der Lage zu sein, den Effekt zu benennen oder ihn zu erklären. Ich hoffe, dass ihre Phantasie an der Stelle ausreicht, um meine mangelnde Ausdrucksfähigkeit zu kompensieren. Wenn nicht, lassen sie einfach mal ein Legomännchen fallen, so dass es den Rand ihres Schreibtisches streift und gucken sie zu, was passiert. Falls sie kein Legomännchen zur Hand haben, tut es auch ein Feuerzeug, sofern sie in der Lage sind, sich darunter einen Menschen vorzustellen.
11 Der Plural an dieser Stelle ist natürlich eine Übertreibung des dramatischen Effekts wegen. Bayreuth hat selbstverständlich nur eine einzige, auch nur partiell ernstnehmbare Zeitung.
12 Die aus dieser Beschreibung der Umstände in erster Person Singular natürlich resultierende Frage ist viel zu offensichtlich, um sie in einer Fußnote irgendwie eindeutig zu beantworten. Denken sie sich ihre Antwort gefälligst selbst aus.
Donnerstag, 15. November 2007
Freistil (CII)
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